Leseprobe „Keine Angst vorm Verzicht“

© Büchner-Verlag, Marburg

Einleitung

Es geht uns gut. Wir Glücklichen! Arbeit, soziale Sicherheit, Mobilität, Freizeitangebote: Alles da. Man nennt es Wohlstand. Darauf sind wir mächtig stolz – völlig zu Recht. Immerhin hat es die Arbeit vieler Generationen gebraucht, ihn aufzubauen. Es ist mehr als verdient, ihn jetzt zu genießen – nach all der Plackerei. Wenn »Geiz geil« ist, dann ist Wohlstand endgeil. Oder vielmehr: war es. Denn in den letzten Jahren mischt sich immer stärker ein schaler Beigeschmack in den Genuss. Wir merken nämlich, wie der einst wunderbare Wohlstand uns zu schaden beginnt. Das führt natürlich zu Irritationen: Etwas, das sich so gut anfühlt, wie kann das schädlich sein? Rauchen, Alkohol, klar, das haben wir mittlerweile eingesehen. Aber der Wohlstand als Ganzes? Der hat die Pest und das sind die Symptome:

• Klimawandel
• Umweltzerstörung
• Tierleid
• Ressourcenverbrauch
• Overtourism
• Politikverdrossenheit
• Flächenverbrauch
• Müllberge
• Überbevölkerung
• Artensterben
• Übergewicht
• Antibiotikaresistenzen
• Schuldenberge
• Zeitnot

Wäre der Wohlstand ein Patient, dann würden sich spätestens jetzt die Verwandten um sein Krankenbett versammeln, weil offenbar die Zeit gekommen ist, Abschied zu nehmen. Wie soll man diese Ballung morbider Probleme je in den Griff bekommen? Und will man es überhaupt? Oft fehlt den Betroffenen ja bis zum Schluss die rechte Einsicht, trotz schlimmer Krankheit. Dabei ist die angezeigte Therapie einfach umschrieben: Wenn Dir etwas schadet, vermeide es. Für die Zukunft würde das bedeuten: Nicht mehr so beherzt zugreifen, auch wenn die Früchte des Wohlstandes noch so sehr locken. Ein Teil davon müsste schlicht liegen bleiben. Wir wären aufgefordert, sehenden Auges zu verzichten. Denn diese Gleichung geht auf: Je mehr Verzicht, desto weniger schlimme Folgen. Da wir momentan praktisch auf gar nichts verzichten, sind die Folgen zu einem Berg angewachsen wie eine Abraumhalde. Das konnte man lange ignorieren, aber heute ist der Berg einfach viel zu groß dazu. Er wirft auf nahezu alles, was wir tun, einen bedrohlichen Schatten. Überdies verschandelt das Riesending das ansonsten so gefällige Landschaftsbild der Wohlstandsgesellschaft. Den notwendigen Verzicht zu leisten, um diesen Berg wieder wegzubekommen, das wird die prägende Erfahrung eines Großteils der Menschheit in diesem Jahrhundert sein. Es wird das 21. Jahrhundert definieren. Die bange Frage, die uns stets begleitet – nämlich, was die Zukunft bringt – ist damit beantwortet: Es wird der Verzicht sein. Er wird nicht mehr nur eine Notlösung für Notzeiten sein, sondern zur herausragenden Kulturtechnik unserer Epoche aufsteigen.

Aber der Reihe nach:
Vor 150 Jahren hat die Industrialisierung alles in Bewegung gebracht. Nie zuvor war so viel Energie, Material und Gewalt durch den Menschen entfesselt worden. Die härtesten und widerständigsten Rohstoffe wurden bearbeitet, gepresst, geschmiedet, geschlagen und schlussendlich bezwungen. Wir waren vom Nutzer zum Gestalter geworden. Hatten wir zuvor von dem gelebt, was wir gefunden hatten, lebten wir nun von dem, was wir erfunden hatten. 150 Jahre lang sprühten Funken, glühte Eisen, wir entwickelten und bauten Flugzeuge, wir machten die Eisenbahn immer schneller und Schiffe immer größer. Eine gemeinsame, nie dagewesene, gewaltige Kraftanstrengung der Menschheit hat eine neue Qualität in unser Leben gebracht: den Wohlstand. Ab jetzt war es möglich, nicht mehr bloß zu überleben, sondern sogar gut leben. Plötzlich wurde man älter als 40. Die Zeit, die man hatte, reichte nun zu mehr, als lediglich die nächste Generation in die Welt zu setzen. Überhaupt: Das Leben bestand nicht mehr nur aus dem Notwendigen. Das augenfälligste Beispiel dafür: Es gab einen Ruhestand. Also Jahre, in denen man gar nichts mehr tun musste. Nie zuvor in der Geschichte war so etwas möglich gewesen. Bisher arbeitete man, überlebte – und dann starb man. Schluss.

Davon ist lange keine Rede mehr. Inzwischen sind wir in einem Leben angekommen, das, wie ein Supermarkt, fast alles im Angebot hat: eine Überfülle an Nahrungsmitteln, unsere eigenen vier Wände, Familienglück, endlose Reisemöglichkeiten, Sport und Spaß, Genussmittel, globale Kommunikation und Gesundheitsfürsorge. Wir müssen, so scheint es, auf nichts verzichten, außer darauf, ewig zu leben. Ein ziemlicher Aufstieg auf der Karriereleiter der Spezies, wenn man bedenkt, dass wir einmal als Höhlenbewohner angefangen haben.

Es war ein historisches Ziel unserer Gattung, und zwar eines, das alle anderen immer überragt hat: sich vom Verzicht zu befreien. Nie wieder ein Bedürfnis zu empfinden, das unbefriedigt bleibt. Frei sein von der Zumutung des bloßen Existierens. Heute können wir uns ins Zeugnis schreiben: Ziel erreicht. Herzlichen Glückwunsch! Mit dem Erfolg sind wir auch einige große Sorgen losgeworden, denn von ihnen hat uns der Wohlstand befreit. Er schafft Arbeitsplätze, sorgt für die Finanzierung der Sozialsysteme und führt damit zu gesellschaftlicher Stabilität. Im Großen und Ganzen profitieren wir alle von ihm.

Der Wohlstand brauchte bislang also keine Imageberatung, er war auch so ein Star. Jetzt aber leidet sein Ansehen. Man merkt es daran, dass die Umstände unserem Denken einen Richtungswechsel aufgezwungen haben. In den Hochzeiten der Industrialisierung dachten wir vor allem daran, wie wir die Fülle an Ressourcen möglichst intensiv ausschöpfen können. Heute dagegen müssen wir überlegen, was wir überhaupt noch davon antasten dürfen. Die Antwort ist inzwischen bekannt: Nichts mehr. Denn in vielen Fällen sind die Erschöpfungsgrenzen des Planeten bereits erreicht, überschritten oder zumindest in Sichtweite. Und für uns selbst gilt das ja auch. Wie viel Beschleunigung und Arbeitsverdichtung werden wir eigentlich noch aushalten können? Dieselbe Antwort: Nichts mehr. Es sieht ganz so aus, als hätten wir uns in eine Sackgasse hochgearbeitet.

In so einer Situation ist Vernunft gefragt – und Einsicht. Beides Qualitäten, mit denen die Menschheit wenig glänzt. Auch wir sind am Ende nur Tiere und leben als solche psychisch vor allem im Hier und Jetzt. Von Anbeginn bis heute haben die Umstände unser Dasein bestimmt. Kam eine Hungersnot, dann hungerte man – zwangsläufig. Ein einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Heute herrscht keine Hungersnot, heute herrscht Fettleibigkeit. Und viele Jahre in der Zukunft wird die zu einer Flut an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Gelenkproblemen führen. Das ist kein einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhang. Wer dagegen etwas tun will, muss heute handeln, obwohl ihn noch nichts dazu zwingt. Was uns früher die Umstände abgenommen haben, muss heute von uns selbst getan werden – vorausschauend, mit Einsicht und Vernunft. Die Aufgabe lautet, mehr als nur die Gegenwart für unser Tun zum Anlass zu nehmen. Das mag zunächst wie ein Nebenaspekt erscheinen. Tatsächlich ist es aber eine ebenso große, wie wichtige Aufgabe. Würden wir sie bewältigen – also wirklich vorausschauendes Handeln zu unserer Richtschnur machen – wäre das gleichbedeutend mit dem Erreichen einer höheren Stufe der Zivilisation.

Freilich, Prüfungen historischen Ausmaßes werden und wurden dem Menschen dauernd schon abgefordert: Weltkriege, Mondflüge, Wirtschaftskrisen, Erstbesteigungen, Entdeckungen – es war nie ein Mangel an Bewährungsproben. Jetzt kommt die nächste: Verzicht. Wie immer ist das alles Neuland. Historische Leistungen erbringt man nicht auf fertigen Landkarten. Deshalb kann man nicht einfach losstapfen. Man sollte tunlichst darauf achten, wohin man den nächsten Schritt setzt. Man muss seinen Weg stets einer kritischen Prüfung unterziehen. Dazu gehört dann auch die Frage, ob Verzicht wirklich die einzige Lösung ist. Oder ob es auch anders geht. Ob auch in Zukunft ein Wohlstand denkbar ist, so wie früher – ohne schlechtes Gewissen, weil ohne negative Folgen? Das sind Fragen, denen dieses Buch nachgehen wird. Auf der Wegstrecke werden wir nicht nur auf die zahlreichen Verzichtsforderungen stoßen, mit denen sich der moderne Mensch konfrontiert sieht, sondern auch auf das ökonomische, philosophische und politische Geflecht, das sich darum herumrankt.

Bevor wir dazu kommen, muss aber erst einmal die Kardinalfrage gestellt werden: Will das überhaupt jemand? Wäre Verzicht überhaupt durchsetzbar? Er geht uns ja zweifellos mächtig gegen den Strich, egal ob wir gerade einkaufen gehen, beim Essen sitzen – oder eben in der Wahlkabine stehen. Verzicht ist der Gottseibeiuns des Wohlstandsbürgers. Er ist die verpönteste Art der Problembewältigung. Und weil das so ist, wird um den Verzicht auch ein solcher Wirbel gemacht. Das Wort selbst ist stets umgeben von einer Art Pesthauch und gehört zu den Aussätzigen in jeder Konversation. Das Gegenteil des Verzichts ist der Genuss. Er ist die Lichtgestalt, die leidenschaftlich verehrt wird. Man genießt den Urlaub, das gute Essen, die Shopping-Tour und tausend andere schöne Dinge des Lebens. Und nichts kann und soll uns davon abhalten. Genuss hat den Status eines Menschenrechts. Und Menschenrechte, die schafft man nicht ab, erst recht nicht, wenn gewählt wird.

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