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Die Lehre von München

Er wurde nie erklärt und tobt doch bereits seit Jahrhunderten: der Weltkrieg zwischen Demokratie und Diktatur. All die vermeintlich kleinen und lokalen Konflikte summieren sich zu dem einen, dass die diktatorische Internationale stets danach trachtet ihr politisches, militärisches und geopolitisches Territorium auszuweiten. Taiwan ist dafür ein Beispiel: seit Jahrzehnten wird der demokratische Staat militärisch bedroht durch das kommunistische Regime auf dem Festland. Man kann und will nicht dulden, dass direkt vor der eigenen Küste eine demokratische Alternative existiert.[1] Immerhin legitimiert sich die KP auch dadurch, dass sie ihre Art der Herrschaft als die einzig für China funktionsfähige darstellt.

Russland geht es mit der Ukraine nicht viel anders. Das zeigt, dass die Auseinandersetzung nicht lautet: West gegen Ost, wie in Moskau gebetsmühlenartig behauptet wird. Die Auseinandersetzung lautet: Diktatur gegen Demokratie. Das erklärt auch die permanente Aggression der russischen Führung gegen die Demokratien diesseits und jenseits des Atlantik. Cyberangriffe[2], versuchte Wahlmanipulation[3] und sogar Mord[4], das ganze Arsenal wird da eingesetzt. Und jetzt auch noch der Truppenaufmarsch gegen die Ukraine.

Die demokratischen Staaten wirken angesichts einer so unverblümten, rohen Aggression reichlich überrumpelt. Insbesondere die europäischen Wohlstandskinder kommen so gar nicht zurecht mit dem Schulhofschläger aus dem Osten. Traurig aber wahr: eine Band wie Pussy Riot hat offensichtlich mehr Mumm in den Knochen, wenn es gilt, Kante gegen Putin zu zeigen, als die Regierungen der Demokratien. Das war auch schon sichtbar bei der Annexion der Krim. Wem das alles jetzt ziemlich bekannt vorkommt, ohne genau zu wissen woher, dem kann geholfen werden: die aktuelle Krise und ihre gesamte Vorgeschichte zeigt deutliche Parallelen zu der Situation vor dem Münchner Abkommen von 1938. Damals wie heute war da eine Politiker, der nach einer endlosen Reihe von Provokationen und Aggressionen eines gelernt hatte: die verweichlichten Demokratien fühlen sich nicht wohl im Ring, also meiden sie ihn*. Je höher Du ins Risiko gehst und je aggressiver Du auftrittst, desto mehr zucken sie zurück.

Hitler hatte das gelernt, als er im März 1935 den Versailler Vertrag mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gebrochen hatte. Wie reagierten die Demokratien? Großbritannien und Frankreich verabschiedeten zusammen mit Italien eine Resolution und bildeten ein kurzlebiges Zweckbündnis (die sogenannte „Stresafront“)[5]. Das war`s. Ziemlich genau ein Jahr später steigerte er seinen Einsatz und schickte die Wehrmacht los um das Rheinland zu besetzen. Das war nach den Regelungen von Versailles eigentlich eine entmilitarisierte Zone. Der Führer spielte va banque, denn hätte Frankreich militärisch reagiert, wäre Deutschland unterlegen. Die Wehrmacht war zu diesem Zeitpunkt der französischen Armee noch nicht gewachsen. Entsprechend nervös war Hitler. Verbürgt ist folgendes Zitat von ihm: „Wären die Franzosen damals ins Rheinland eingerückt, hätten wir uns mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen, denn die militärischen Kräfte, über die wir verfügten, hätten keineswegs auch nur zu einem mäßigen Widerstand ausgereicht.“[6] Gekommen ist es, wie man weiß, anders: Frankreich und Großbritannien haben nicht reagiert, Hitlers Aggression hatte sich wieder einmal ausgezahlt. Kein Wunder, dass er sich ermutigt fühlte 1938 aufs nächste Level zu gehen. Ziel war diesmal das Sudetenland, die Tschechoslowakei an sich. Die sogenannte Sudetenkrise wurde mit endlosen Provokationen von Seiten Deutschlands angeheizt. Die Demokratien, allen voran Großbritannien, zogen aus der nun sichtbaren Kette: Wehrpflicht, Rheinland, Sudetenland aber nicht den Schluss, dass Hitler an ihrer Nachgiebigkeit wuchs. Bizarrerweise taten sie genau das Gegenteil: sie schienen darin den Beleg zu sehen, dass ihre Befriedungspolitik funktioniere. Deshalb wurde sie im Münchner Abkommen von 1938 nahtlos fortgesetzt und das Sudetenland Hitler auf dem Silbertablett überreicht[7]. Das Konzept dahinter nannte sich „Appeasement-Politik“, also eine Politik der Beschwichtigung. Die Demokratien haben damit 1938 einen Krieg verhindert aber nur um den Preis eines viel schlimmeren und größeren, der ziemlich genau ein Jahr später ausbrach.

Sprung in die Gegenwart. 2013 erklärt US-Präsident Obama den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien zu einer roten Linie. Auch der französische Präsident äußert sich in diesem Sinne. Er droht sogar offen mit einer militärischen Reaktion. Das von Russland protegierte syrische Regime setzt dennoch ungerührt Chemiewaffen ein und jegliche militärische Reaktion der Demokratien bleibt aus. Der russische Präsident Wladimir Putin nimmt es aufmerksam zur Kenntnis. Im Jahr darauf tut er etwas, das im Nachkriegs-Europa noch nicht dagewesen ist: er annektiert Territorium eines anderen Staates. Die ukrainische Halbinsel Krim ist fortan russisches Gebiet. Die Demokratien reagieren plangemäß: sie verhandeln und nehmen es hin. Aggression zahlt sich aus, auch im Europa des 21. Jahrhunderts. Die Folge: Putin erhöht den Einsatz und lässt um den Jahreswechsel 2021/2022 eine Invasionsarmee an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren. Wir erkennen wieder eine Kette: Syrien, Krim, Ukraine. Man muss im Geschichtsunterricht wirklich ganz hinten gesessen haben um da keine Parallelen zu ´38 zu sehen.

Die Lehre daraus wäre jetzt: man muss Putin mit entschiedener Gegenwehr drohen. Dazu gehören auf jeden Fall harte wirtschaftliche Sanktionen aber auch, als Ultima Ratio, der Einsatz des Militärs. Man muss ihm klarmachen, dass ein Angriff auf den demokratischen Staat Ukraine als Angriff auf alle Demokratien gewertet wird. Denn das wäre er ja auch. Stattdessen wird allenthalben in den Hauptstädten der Demokratien von vorneherein jede militärische Gegenaktion ausgeschlossen[8]. Mehr noch: selbst massive Wirtschaftssanktionen im Falle eines Angriffes werden von führenden PolitikerInnen abgelehnt. So beispielsweise der Ausschluss Russlands aus dem Swift-System, das den grenzübergreifenden Geldverkehr zwischen Banken organisiert. Friedrich Merz hat davor gewarnt, zu diesem Instrument zu greifen.[9] Ja zu welchem denn dann? Eine Protestresolution verfassen, während in der Ukraine nicht nur die Leute sterben, sondern auch die Demokratie? Natürlich kann man einen Krieg jetzt verhindern, indem man Putin die Ukraine einfach zur Beute überlässt. Dann ist aber der Weg in den viel größeren Krieg nicht mehr weit. Litauen, Estland, Lettland, Polen, sie alle gehörten früher zum Einflussgebiet der Sowjetunion, welcher Putin ganz offen hinterhertrauert[10]. Warum also sollte er sich mit der Ukraine begnügen, wenn er doch dort gelernt hat, dass man auch heute noch in Europa ungestraft fremde Länder okkupieren kann? Litauen, Estland, Lettland, Polen, werden manche sagen, das ist doch undenkbar. Nun ja, das hat man in Bezug auf die Krim auch gedacht. Wir sollten aufhören zu denken, dass irgendetwas undenkbar ist.

22.01.2022

* Disclaimer: natürlich soll hier Wladimir Putin nicht mit Hitler verglichen werden. Sein Land hat große Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht. Aber die historischen und psychologischen Mechanismen die kann und darf man vergleichen.

[1] Dieser Gedanke findet sich in dem Buch „Der rote Apparat“ von Richard Mcgregor, Verlag Matthes & Seitz, Berlin

[2] zum Beispiel auf den Deutschen Bundestag im Jahr 2015, für den laut Bundesanwaltschaft der russische Militärgeheimdienst GRU verantwortlich zeichnet, siehe dazu unter www.tagesschau.de, „Haftbefehl gegen russischen Hacker“, Florian Flade, 05.05.2022

[3] zum Beispiel der Angriff auf die Kampagne von Hillary Clinton im Jahr 2016, nach Angaben des US-Justizministeriums vom russischen Militärgeheimdienst GRU ausgeführt. Siehe dazu www.tagesspiegel.de, „Zwölf russische Spione wegen Wahlkampf-Cyberattacke in USA angeklagt“, 13.07.2018

[4] gemeint ist der sogenannte „Tiergartenmord“, siehe dazu auf www.welt.de, „Lebenslange Haft im `Tiergartenmord“-Prozess´ – Auftrag für Mord kam laut Gericht aus Russland“, 15.12.2021

[5] www.dhm.de, „Die NS-Außenpolitik“, Claudia Prinz, 02.05.2002

[6] www.spiegel.de, „Es zittern die morschen Knochen…“, Wilhelm Bittorf, 13.08.1989

[7] www.bpb.de, „Das Münchener Abkommen von 1938 – der gescheiterte Versuch, Hitler zu beschwichtigen“, 25.09.2018

[8] www.handelsblatt.de, „Joe Biden: Kein US-Militäreinsatz in Ukraine gegen Russland – Scholz droht Moskau mit Konsequenzen“, 08.12.2021

[9] www.spiegel.de, „Die ‚Atombombe‘ aus La Hulpe“, Tim Bartz, Michael Brächer, 17.01.2022 | www.spiegel.de, „Merz warnt vor ‚Atombombe‘ für die Kapitalmärkte“, 16.01.2022

[10] www.stern.de, „30 Jahre ohne Sowjetunion – Putin kämpft um Großmachtstatus“, 26.12.2021